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Ich tanzte mit blinden Menschen

Tag 619: Ich hatte doch erst vor 120 Tagen hier beschrieben, wie vielfältig die Möglichkeiten zu Erfahrung abseits des Wiener Tangokonformismus geworden sind. Wieder habe ich etwas Neues entdeckt. Lilli’s Ballroom nennt sich das und hat sich einem wunderbaren Motto verschrieben: „Wo es keine Grenzen gibt, tanzt die Freiheit.“

Etwas unsicher war ich schon. So ganz ohne Berührungsangst ging es dann doch nicht. Es war wohl auch eine Art von intellektueller Neugier, wie sich blinde Menschen mit dem Tango tun, so ehrlich möchte ich schon sein. Sicherheitshalber hatte ich Freundinnen aktiviert, die mitgekommen waren. Ich stehe also, per Augenmaske “erblindet”, in einem Sportsaal des Blinden- und Sehbehindertenverbandes in der Häglingasse, weil ich mich zu einem Workshop angemeldet hatte. Irgendwie schien es mir logisch, dass Blinde Menschen sich wesentlich feinfühliger und kompetenter bewegen können. Davon versprach ich mir einen Erfahrungszugewinn. Allen Ernstes hatte ich erwartet, dass wir uns da aufstellen und Figuren tanzen. Natürlich läuft das anders. Auch Sehbeeinträchtigte müssen zuerst einmal Bewegung, Achsen und Rhythmus kennenlernen. Karen und Jörg betreuen mich und die Gruppe, die aus fünf blinden bzw. sehbehinderten und fünf normalsichtigen Tanzfreunden besteht. Ein ausgeglichenes Frau-Mann Verhältnis ist wohl Zufall. Wir beginnen einfach Mal zu stehen, am Stand zu gehen und uns aufeinander zuzubewegen und ich erspüre bewusst, welche Teile meines Fußes den Boden berühren, wie ich mich einer Dame nähere, ihr die Hand reiche und sie berühre. Es ist erstaunlich, wie sicher das eigentlich geht. Um wie viel einfacher eine Annährung ist, wenn ich nicht von Äußerlichkeiten oder Erwartungen abgelenkt werde. Erste Lektion gelernt: Ich lasse mich viel zu viel von der Umgebung ablenken. Ich bin überhaupt nicht fokussiert auf die Begegnung mit einer Partnerin.

Und so nebenbei erlebe ich, dass es ebenso überhaupt keinen Unterschied macht, ob ich in der Tanzschule eine Kollegin umarme oder hier eine blinde Dame.

Musik wird eingespielt und wir versuchen uns dazu zu bewegen, versuchen in den Körper zu horchen, wo die Musik ihre Wirkung entfaltet und in welchem Bereich, wo genau im Körper dadurch eine Reaktion erfolgt die Bewegung ausgelöst. Ich verstehe plötzlich das schon längst bevor ich bewusst den Fuß bewege oder die Schulter drehe, mein Körper ein Signal gesendet hat, dass mein Gegenüber spürte und darauf reagierte. Lektion zwei gelernt: Ich führe schon längst bevor ich es selbst merke.

Meine Führungsimpulse werden irgendwie sparsamer und effektiver und bekommen einen besseren Wirkungsgrad. Das ist doch schon sehr viel. Auf das Leader-Follower-System angesprochen, wird uns erklärt, dass Mann zwar führt, aber Frau für den Raum hinter ihr Verantwortung übernehmen kann. Ahja, das ist doch eine faire Aufgabenteilung. Sie muss es halt nur lernen. Apropos Fairness: ein spielerisches Wechseln zwischen Führen und Folgen unabhängig vom Geschlecht ist fester Bestandteil jeder Übung. Auch was Neues, mich mal führen zu lassen. Ich weiß nicht, wie das Blinde Menschen erleben, ich habe mich nicht mit ihnen unterhalten, aber ich möchte als Erkenntnis weitergeben, dass ich nach 619 Tagen Tangoerfahrung noch nie so sehr mit meinen Innenleben einverstanden war, was meine tänzerische Bewegung betrifft, als wie in dieser Stunde.

Für Interessierte: www.lillisballroom.at

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